09 November 2005

Tolstois Rat

Welches ist die Zeit, die man einhalten muss und nicht versäumen darf, um hinterher nichts bereuen zu müssen?
Welche Leute sind die unentbehrlichsten? Mit welchen Leuten muss man sich mehr, mit welchen weniger befassen?
Welche Werke sind die wichtigsten, und welches von allen Werken muss daher zuerst getan werden?

Mit diesen Fragen beschäftigte sich ein König und er fragte Gelehrte seines Landes. Doch er bekam keine Antwort, die ihn zufriedenstellte.

So entschließt sich der König, einen weisen Einsiedler um Rat zu fragen, der weit von seinem Schloss entfernt lebt. Einfach gekleidet, geht er zu unerkannt ihm. Der Einsiedler arbeitet gerade in seinem Garten. Als der König ihm seine Frage stellt, gibt er keineAntwort. Der König sieht, wie schwer dem alten Mann die Arbeit fällt, er nimmt ihm den Spaten ab und hilft ihm. Nach einiger Zeit sehen sie, wie ein schwerverwundeter Mann aus dem Wald taumelt. Der König läuft hin, führt den Verletzten in die Hütte des Einsiedlers, verbindet ihm seine Wunden und gibt ihm zu trinken. Am kommenden Morgen gibt sich der Fremde zu erkennen: Er war ein Feind desKönigs gewesen, hatte ihm aufgelauert, um ihn umzubringen, weil er seinen Bruder getötet und sein eigenes Vermögen an sich genommen hatte. Doch der Fremde war von der Leibwache des Königs ertappt und verwundet worden. „Ich wollte dich töten, du aber hast mir das Leben gerettet“, sagt er zu dem König. „Von nun an will ich dein treuester Diener sein! Und auch meine Söhne sollen dir dienen.“
Noch einmal stellt der König dem Einsiedler seine Fragen. Doch der meint: „Du hast die Antwort schon bekommen! Was du hier getan und erlebt hast, gibt dir die Antwort."

Und er ergänzte:

Merke dir:
Die wichtigste Zeit ist nur eine, der Augenblick. Nur über ihn haben wir Gewalt.
Der unentbehrlichste Mensch ist der, mit dem uns der Augenblick zusammenführt; denn niemand kann wissen, ob er noch je mit einem anderen zu tun haben wird.
Das wichtigste Werk ist, ihm Gutes zu erweisen - denn nur dazu ward der Mensch ins Leben gesandt.