04 Januar 2010

Ein Auge

Einfältige meinen, sie könnten Gott in der Erleuchtung ansehen, als stünde Er dort und sie hier. So ist es nicht. Gott und Ich sind im Erkennen eins. Gottes Wesen ist sein Erkennen, und Gottes Erkennen macht, dass ich ihn erkenne. Darum ist mein Erkennen sein Erkennen.
Gott ist uns nahe - aber wir sind ihm fremd. Gott ist drinnen - aber wir sind draußen. Gott ist unsere innere Heimat - aber wir sind uns selbst Fremde. Du brauchst Gott nicht zu suchen. Er ist nicht ferner als vor der Tür deines Herzens; da steht Er und wartet und harrt, dass Er dich bereit findet, dass du Ihm auftust und Ihn einlässt. Du brauchst Ihn nicht von fern her zu rufen, sondern dich nur nach innen wenden: Gott wartet ungeduldiger als du, dass du dich ihm öffnest; Ihn verlangt tausendmal dringender nach dir, als dich nach Ihm. Dein Auftun und sein Eingehen geschieht in einem Augenblick.

Willst du Gott ohne Vermittlung, unmittelbar kennen lernen, so musst du geradezu Er werden und Er du - so ganz eins, dass dies Er und dies Du eins werden und sind. Das Auge, womit Gott von dir gesehen wird, ist dasselbe Auge, womit Gott dich ansieht. Dein Aug und Gottes Aug ist ein Aug.

Meister Eckhart (1260-1327)