30 August 2010

Weg der Seele nach innen

Es lässt sich auf mancherlei Weise erklären, was Meditation ist, was sie bewirkt, wie sie funktioniert. Mit Meditation, sagen manche, lässt sich der Entspannungsreflex auslösen. Meditation, sagen andere, schult das bewusste Gewahrsein; sie ist eine Methode der Ausrichtung und Zentrierung des Ich; sie hält das endlose verbale Denken an und entspannt Körper und Geist; sie beruhigt das Zentralnervensystem; sie mindert Stress, verleiht Selbstwertgefühl, verringert Angst und lindert Depressionen.

All das trifft zu und wurde klinisch bestätigt. Ich möchte aber hervorheben, dass Meditation an sich eine spirituelle Praxis ist und immer war. Sie mag christlich, buddhistisch, hinduistisch, taoistisch oder muslimisch sein - immer ist sie der Weg der Seele nach innen, wo sie schliesslich ihr Einssein mit dem Göttlichen findet. "Das Reich Gottes ist in euch" - und Meditation ist von ihren Ursprüngen an stets der Königsweg zu diesem Reich gewesen.  Was auch immer die Meditation also zu leisten vermag, sie ist zuerst und vor allem die Suche nach dem inneren Gott.

Ich würde sagen, dass Meditation spirituell, aber nicht unbedingt religiös ist. Spiritualität hat mit tatsächlicher Erfahrung zu tun, nicht mit blossen Glaubensinhalten; mit Gott als dem Grund des Seins, nicht mit einer kosmischen Vaterfigur; mit dem Erwachen zum wahren Selbst, nicht mit Gebeten für das kleine ich; mit Bewusstseinsschulung, nicht mit weihevollem Moralisieren über Unzucht und Völlerei; mit dem Geist, der in jedem Herzen zu finden ist, nicht mit irgend etwas, das in dieser oder jener Kirche getan wird. Kurzum, Meditation ist spirituell, Gebet - jedenfalls das Bittgebet, in dem ich um ein neues Auto oder eine Beförderung ersuche - ist religiös: Es dient nur dem kleinen Ego mit seinen endlosen Wünschen. Meditation dagegen möchte das Ego vollkommen überwinden; sie erbittet nichts von Gott, sondern bietet das Ego dar als Opfer für ein Bewusstsein höherer Art.

Das heisst auch, dass Meditation nicht dieser oder jener Religion zuzurechnen ist, sondern Bestandteil einer universalen spirituellen Kultur der Menschheit ist - ein Bemühen, Gewahrsein in alle Aspekte des Lebens zu bringen. Sie ist, anders gesagt, Teil dessen, was man philosophia perennis nennt, die "immerwährende Philosophie".

Ken Wilber (*1949)