13 August 2010

Tage des Gutseins

Nun setze ich den Fall, ein Mensch habe hundert Mark; davon verliert er vierzig und behält sechzig. Will der Mensch nun immerfort an die vierzig denken, die er verloren hat, so bleibt er ungetröstet und bekümmert. Wie könnte auch der getröstet sein und ohne Leid, der sich dem Schaden zukehrt und dem Leid und das in sich und sich in es einprägt und es anblickt, und es schaut wiederum ihn an, und er plaudert mit ihm und spricht mit dem Schaden, und der Schaden hinwiederum plaudert mit ihm, und beide schauen sich an von Angesicht zu Angesicht? Wäre es aber so, daß er sich den sechzig Mark zukehrte, die er noch hat, und den vierzig, die verloren sind, den Rücken kehrte und sich in die sechzig versenkte und die von Antlitz zu Antlitz anschaute und mit ihnen plauderte, so würde er sicherlich getröstet. Was etwas ist und gut ist, das vermag zu trösten; was aber weder ist noch gut ist, was nicht mein und mir verloren ist, das muß notwendig Untrost ergeben und Leid und Betrübnis. Darum spricht Salomon: »In den Tagen des Leids vergiß nicht der Tage des Gutseins« (Eccles. 11,27). Das will sagen: Wenn du im Leid und Ungemach bist, so gedenke des Guten und des Gemaches, das du noch hast und behältst. Auch wird das hinwiederum den Menschen trösten, wenn er bedenken will, wie manches Tausend derer lebt, die, wenn sie die sechzig Mark besäßen, die du noch hast, sich für große Männer und Frauen hielten und sich sehr reich dünkten und von Herzen froh wären.

Meister Eckhart (1260 - 1328)