25 Juni 2010

Mahamudra

Mahamudra ist jenseits aller Worte und Bilder; doch dir, Naropa, dem ernst und eifrig Übenden, sei dies gesagt:

Die Leere bedarf keiner Stütze,
Mahamudra stützt sich auf nichts.
Ohne sich anzustrengen,
gelöst und natürlich bleibend,
kann man das Joch zerbrechen
und Befreiung erlangen.
Wenn man, in den Raum hinausstarrend
nichts sieht, und zugleich
der Geist den Geist erschaut,
vergehen alle Unterscheidungen
und Buddhaschaft ist erreicht.
Die Wolken wandern über den Himmel,
wurzeln nirgends, haben keine Bleibe;
ebenso die unterscheidenden Gedanken,
die über den Geist hinwegziehen.
Sobald der Selbst-Geist erschaut ist,
endet alles Unterscheiden.
Im Weltraum entstehen Formen und Farben,
aber der Raum ist nicht schwarz, nicht weiß.
Aus dem Selbst-Geist entspringt jedes Ding,
doch er selbst bleibt von Tugend und Laster frei.
Die Finsternis der Jahrtausende vermag nicht
die strahlende Sonne zu verdunkeln;
Kalpas von Samsara vermögen nicht
das Licht des Selbst-Geistes zu mindern.
Werden auch Worte gewählt, Leere zu erklären,
Leere selbst kann niemals ausgedrückt werden.
Sagen wir: "Der Geist ist Strahlendes Licht" -
er bleibt doch jenseits der Worte und Bilder.
Ist auch der Geist seinem Wesen nach leer,
er umschließt und erhält alle Dinge.
Tu  nicht mit deinem Körper - entspanne dich;
halte den Mund und verharre in Schweigen;
Leere deinen Geist und hafte an nichts.
Gleich einem hohlen Bambus ruhe dein Leib,
nicht gebend, nicht nehmend, ruhe dein Geist.
Der an nichts haftende Geist ist Mahamudra.
So übend, wirst du allmählich zu Buddha.
Mantra- und Paramita-Übungen,
Unterweisungen in Sutren und Geboten,
die Lehren der Schulen und heiligen Schriften
bringen dir keine Verwirklichung
der Ungeborenen Wahrheit.
Denn wenn der Geist voll Begehren
nach Licht sucht, verdunkelt er es nur.
Wer sich an den Buchstaben der Gebote hält
und nicht abläßt zu unterscheiden,
der verrät den Geist der Gebote.
Laß ab vom Tun, gib auf das Begehren,
Laß die Gedanken kommen und gehen
gleich den Wellen des Meeres.
Wer das Gesetz des Nicht-Verweilens
und das Prinzip des Nicht-Unterscheidens
nicht verletzt, lebt nach dem Geist des Gebots.
Wer das Begehren aufgibt,
sich an nichts mehr klammert,
der hat den wahren Geist erlangt,
von dem die Schriften sagen.
Mahamudra brennt alle Übel aus
Mahamudra befreit vom Kerker der Welt.
Mahamudra ist die Fackel der Lehre.
Die daran zweifeln, sind Narren,
ewig sich suhlend in Unglück und Sorge.
Wer Befreiung sucht,
der braucht den Meister.
Empfängt dein Geist seinen Segen,
ist die Befreiung nahe.
Ach, die Dinge der Welt sind wertlos,
sie säen nur Sorgen.
Geringe Lehre leitet zum Tun;
du sollst der Großen Lehre des Nicht-Tuns folgen.
Über die Zweiheit hinaus zu sehen,
ist die königliche Schau;
das Trennende zu besiegen,
ist die königliche Übung;
Die Übung der Nicht-Übung
ist die Tat der Buddhas;
wer diesen Weg beschreitet,
erlangt die Buddhaschaft.
Vergänglich ist diese Welt;
unwirklich wie Trug und Träume.
Verzichte und verlasse das Deine,
zerschneide die Fesseln von Gier und Haß,
Meditiere in Wäldern und Bergen.
Wenn du mühelos gelöst verbleibst
im 'natürlichen Seinsstand',
wirst du Mahamudra erlangen
und das Nicht-Erreichbare erreichen.
Durchschneide die Wurzel des Baumes,
und die Blätter werden welken;
Durchschneide die Wurzel des Verstandes,
und Samsara-Kreislauf findet ein Ende.
Das Licht einer Lampe verjagt im Nu
das Dunkel von Äonen ohne Ende;
Das Licht des Geistes verbrennt wie ein Blitz
die Schleier der Verblendung.
Wer an den Verstand sich klammert,
sieht nicht die Wahrheit jenseits davon.
Wer die Lehre zu üben gewillt ist,
findet die Wahrheit jenseits der Übung nicht.
Um Verstand und Übung zu übersteigen,
solltest du die Wurzel des Verstandes durchtrennen
und in reinem und leerem Gewahrsein verharren,
Unterscheidungen lassen und in Frieden bleiben.
Ohne zu geben und zu nehmen
sollst du unbemüht bleiben,   
denn Mahamudra ist jenseits
von Annehmen und Ablehnen.
Das Allbewußtsein ist ungeboren;                       
niemand kann es beschmutzen, beflecken.
Im Ungeborenen löst Erscheinung sich auf
in die wahre Natur der Dinge:
Ich-Wille und Stolz vergehen in nichts.
Höchstes Verstehen übersteigt das Verstehen,
höchstes Tun fließt aus ewiger Quelle,
ohne anzuhaften.
Höchste Vollendung - Innesein zu verwirklichen,       
ohne Hoffnung daran zu knüpfen.
Am Anfang fühlt der Übende seinen Geist
wie einen Wasserfall vorüberstürzen;
In der Mitte des Weges fließt er
wie der Ganges ruhig und langsam dahin;
zuletzt ist er ein gewaltiges Meer,
in dem die Lichter von Tun           
und Sein in eins verschmelzen.

Tilopa (988 -1069)


P.S. Nächstes Posting am 11. Juli...