25 Dezember 2008

Gott in uns geboren

"In der Zeit ward der Engel Gabriel gesandt von Gott." In welcher Zeit? Im sechsten Monat, als Johannes im Mutterleib zappelte. Wenn mich nun einer fragte: Warum beten wir oder warum fasten wir oder wirken wir all unser Werk? so antworte ich: Darum, dass Gott in unserer Seele geboren werde. Warum ist alle Schrift geschrieben und warum hat Gott die Engelsnatur und alle Welt geschaffen? Darum allein, dass Gott in der Seele geboren werde. Alles Kornes Natur meint Weizen, alles Schatzes Natur Gold, alle Gebarung meint Mensch. Wie ein Meister spricht, gibt es kein Tier, das nicht etwas mit dem Menschen in der Zeit gemein hat.

Sankt Paulus spricht: "In der Vollendung der Zeit sandte Gott seinen Sohn." Sankt Augustin ward gefragt, was das sei, die Vollendung der Zeit? Vollendung der Zeit ist, wenn der Tag nicht mehr ist: dann ist der Tag vollendet. Es ist eine sichere Wahrheit, wo diese Geburt geschehen soll, da muss alle Zeit hinab sein, denn es gibt nichts, was diese Geburt so sehr hindert, als Zeit und Kreatur. Es ist eine notwendige Wahrheit, dass die Zeit an Gott und die Seele nicht rühren kann. Könnte Zeit an die Seele rühren, so wäre sie nicht Seele. Könnte Gott von der Zeit berührt wer den, so wäre er nicht Gott.

Eine andere Vollendung der Zeit! Wer die Kunst und die Macht hätte, dass er die Zeit und alles, was in sechstausend Jahren je geschah oder noch geschehen wird bis an das Ende der Welt: wenn einer das heranziehen könnte in ein gegenwärtiges Nu, das wäre Vollendung der Zeit. Das ist das Nu der Ewigkeit, wo die Seele alle Dinge in Gott erkennt, so neu und so frisch und in derselben Lust, wie ich sie jetzt gegenwärtig habe. Die mindeste Kraft in meiner Seele ist weiter als der weite Himmel. Ich sehe ab von der Vernunft, in der ist Weite über Weite, in der bin ich so nahe dem Ort, der tausend Meilen weg ist, als dem Ort, worin ich jetzt stehe. Die Meister sagen, die Menge der Engel sei ohne Zahl, ihre Zahl könne nicht begriffen werden. Wer aber ohne Zahl und ohne Menge unterscheiden könnte, dem wäre hundert wie eins. Wären gleich hundert Personen in der Gottheit, so erkennte er doch, dass nur ein Gott ist. Dass Gott in uns geboren werde, das walte Gott. Amen.

Meister Eckhart (1260-1327)